AI-Twins in der Marktforschung

In einer Welt, die zunehmend von Daten und Technologie geprägt ist, erweitert generative KI (AI) die Instrumente der Marktforschung grundlegend. Ähnlich zu digitalen Zwillingen physischer Objekte simulieren KI-basierte Zwillinge heute Kund:innenpräferenzen und -verhalten in realitätsnahen Szenarien. Angetrieben von grossen Sprachmodellen (Large Language Models, LLMs) entstehen AI-Twins, die sich darauf auswirken, wie Unternehmen Konsument:innenbedürfnisse verstehen und analysieren. Diese Zwillinge liefern nicht nur tiefere Einblicke in simulierte Eins-zu-eins-Interviews, sondern auch Ergebnisse innerhalb von Minuten, selbst bei grossangelegten Umfragen oder A/B-Tests.

Wer AI-Twins gezielt einsetzt, reagiert schneller auf Marktveränderungen, passt Strategien flexibel an und sichert sich so einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil.

Herausforderung: Datenflut trifft schnellen Wandel

Unternehmen sehen sich heute mit einer enormen und stetig wachsenden Menge an Daten konfrontiert. Diese reichen von Kund:inneninteraktionen und Transaktionen bis hin zu vielfältigen digitalen Touchpoints, Marktstudien und Social-Media-Analysen. Gleichzeitig wächst der Druck auf schnelle Entscheidungen und agile Anpassungen in der Produktentwicklung, beim Marketing oder in der strategischen Planung.

Traditionelle Marktforschungsmethoden erreichen hier ihre Grenzen: Sie sind oft langsam sowie kostenintensiv und erlauben meist nur begrenzte Hypothesentests. Umfragen, Interviews und klassische Feldstudien liefern zwar wertvolle Einsichten, sind aber häufig zeitaufwendig und dadurch wenig agil. Hinzu kommt, dass reale Experimente – etwa zur Produktvalidierung, Werbemitteloptimierung oder Preisgestaltung – teuer sind und nicht immer wiederholt oder in grösserer Zahl durchgeführt werden können.

Genau hier setzen AI-Twins an. Sie ermöglichen Unternehmen, Kund:innenpräferenzen und -verhalten zu simulieren, sodass Hypothesen schnell, kosteneffizient und in hoher Frequenz getestet werden können. Anstatt aufwendig reale Studien oder Feldversuche zu organisieren, bieten AI-Twins die Möglichkeit, potenzielle Marktreaktionen, Produktfeatures oder Werbebotschaften unmittelbar und in grosser Breite digital zu prüfen.

Was steckt hinter einem AI-Twin?

Ein AI-Twin ist eine digitale, KI-basierte Replik einzelner Konsument:innen oder ganzer Zielgruppen. Er beruht auf synthetischen Daten, die reale Einstellungen, Präferenzen und Verhaltensweisen nachbilden. Dabei werden sogenannte synthetische Antworten («Synth-Responses») generiert, die reale Interaktionen und Wahrnehmungen von Kund:innen simulieren.

Konkret gehen AI-Twins über Predictive Analytics hinaus: Sie sagen nicht nur Ergebnisse voraus, sondern stellen individuelle Verhaltensweisen realitätsnah nach. Diese Zwillinge entstehen aus umfangreichen Datensätzen, die entweder direkt aus bestehenden Kund:inneninformationen oder aus idealtypischen Zielgruppenprofilen gewonnen werden. Dadurch können Unternehmen Szenarien durchspielen, die sonst aufwendig oder sogar unmöglich zu testen wären.

Wie realitätsnah und valide die Ergebnisse dieser digitalen Zwillinge tatsächlich sind, hängt dabei entscheidend von der gewählten Methode und dem Setup ab. Aktuell bieten Anbieter am Markt unterschiedliche Ansätze, deren Aussagekraft erheblich variiert. Im Folgenden unterscheiden wir vier wesentliche Methoden, sortiert nach steigender Realitätsnähe und Aussagekraft (siehe Abbildung 1):

Hybride Methode – Integration von Retrieval-Augmented Generation (RAG) (Höchste Validität)
Die anspruchsvollste und zugleich realitätsnächste Methode kombiniert Fine-Tuning mit einem dynamischen Abrufsystem (RAG). Dieses System integriert in Echtzeit relevante Studien, aktuelle Marktforschungsergebnisse und zusätzliche Kontextinformationen. AI-Twins können somit hochaktuell, flexibel und äusserst realitätsgetreu individuelle Reaktionen und Marktverhalten simulieren. Diese Methode liefert die grösste Validität und Aussagekraft.

Zero-Shot Prompting (Basis-Level)
Die einfachste Methode: Hier wird lediglich eine Persona (z. B. demografische Merkmale) in einem Prompt beschrieben. Die KI generiert Antworten basierend auf allgemeinen Trainingsdaten. Die Ergebnisse wirken intuitiv plausibel, aber oft generisch. Sie eignen sich vor allem für grobe Ideation oder erste schnelle Tests, nicht jedoch für präzise Prognosen.

Few-Shot Prompting – In-Context-Learning (Erhöhte Validität)
Diese Methode ergänzt den Persona-Prompt um konkrete Beispiele aus vergangenen Studien oder realen Kund:inneninteraktionen. Die AI-Twins profitieren so von explizitem Kontextwissen. Die Ergebnisse werden präziser und glaubwürdiger, allerdings hängen Qualität und Konsistenz stark von der Anzahl und Güte der Beispiele ab.

Fine-Tuning auf Unternehmensdaten (Hohe Validität)
Hier wird das LLM gezielt mit historischen, firmenspezifischen Kund:innendaten trainiert. Dadurch entstehen AI-Twins, die das tatsächliche Konsument:innenverhalten spezifischer Zielgruppen realistischer und zuverlässiger abbilden. Die Validität der Ergebnisse ist hoch und erlaubt eine deutlich präzisere Marktsimulation.

Abb. 1: Aussagekraft und Realitätsnähe verschiedener Methoden

Einsatzfelder von AI-Twins

Aktuelle Forschungsarbeiten bestätigen die beeindruckende Leistungsfähigkeit von AI-Twins – sowohl in der qualitativen als auch quantitativen Marktforschung. Dabei überwinden AI-Twins bisherige methodische Grenzen und ermöglichen einen Paradigmenwechsel in der Gewinnung von Consumer Insights.

Qualitative Forschung: Skalierung und vertiefte Einsichten
Qualitative Studien, etwa Tiefeninterviews oder Fokusgruppen, galten bisher als aufwendig und kaum skalierbar. AI-Twins verändern dies grundlegend. Mittels KI können Hunderte oder sogar Tausende von individualisierten Interviews durchgeführt werden. Dabei liefert KI nicht nur Antworten, sondern agiert eigenständig als Interviewerin: Sie stellt relevante Nachfragen und vertieft Themen gezielt. Ein Vorgehen, das bislang erfahrenen menschlichen Interviewer:innen vorbehalten war.

Diese automatisierte Interviewführung erlaubt erstmals grossangelegte qualitative Studien, ohne dabei die zentralen Stärken qualitativer Methoden – Tiefe, Kontextverständnis und exploratives Vorgehen – einzubüssen. Im Gegenteil. Aktuelle Forschungsstudien zeigen sogar, dass KI-generierte Interviews hinsichtlich Antworttiefe und Erkenntnisgewinn menschlichen Interviews überlegen sein können. Zusätzlich ermöglichen AI-Twins, gezielt vielfältige und diversere Stichproben zu simulieren und dadurch bislang unterrepräsentierte Zielgruppen präziser abzubilden.

Quantitative Forschung: Schnelle und zuverlässige Vergleiche
Auch quantitative Forschung profitiert massgeblich von der Geschwindigkeit und vom Umfang der AI-Twin-Studien. Besonders wirkungsvoll sind vergleichende quantitative Studien, wie etwa A/B-Tests zur Kampagnen- oder Message-Optimierung oder zur Evaluation von Produktkonzepten. Digitale Zwillinge erlauben dabei umfassende, präzise und zügig durchgeführte Tests verschiedenster Szenarien, auf deren Basis Marketing- und Produktentscheidungen deutlich schneller und fundierter getroffen werden können.
Die Validität und Aussagekraft der KI-generierten Ergebnisse hängt jedoch entscheidend von der gewählten Methode ab. Durch den Einsatz gezielter Techniken wie Few-Shot-Learning, Fine-Tuning auf unternehmensspezifischen Daten und insbesondere Retrieval-Augmented Generation (RAG), die Echtzeitinformationen dynamisch integriert, steigen Varianz und Zuverlässigkeit synthetischer Daten enorm an.

Verschmelzung qualitativer und quantitativer Methoden

Ein besonders spannender Mehrwert liegt in der engen Verzahnung qualitativer und quantitativer Methoden, die AI-Twins ermöglichen. Qualitative AI-Twin-Studien liefern beispielsweise tiefgehende initiale Einsichten zu Motiven und Einstellungen. Diese Erkenntnisse können anschliessend quantitativ validiert und ausgeweitet werden. Beispielsweise können mithilfe quantitativer AI-Twin-Studien generierte Hypothesen und Produktideen grossangelegt getestet und so valide und belastbare Insights gewonnen werden.

Zudem erlaubt die Generierung synthetischer Daten durch LLMs eine zuverlässige Vorhersage klassischer Umfrageergebnisse. Auf diese Weise können potenzielle Probleme und Schwachstellen traditioneller Marktforschungsinstrumente wie Fragebogen bereits vor der Feldphase identifiziert und behoben werden. Dies führt zu einer agileren, datengetriebenen Marktforschung, die Unternehmen erlaubt, schneller auf Marktveränderungen zu reagieren und ihre Strategien dynamisch anzupassen.

Worauf bei der Auswahl von AI-Twins zu achten ist

Die Qualität der gewonnenen Insights hängt wesentlich vom Setup der AI-Twins ab. Um valide, verlässliche und praxisrelevante Ergebnisse sicherzustellen, sollten Unternehmen insbesondere die folgenden drei Aspekte beachten:

Echtzeitfähigkeit und dynamische Anpassbarkeit (RAG)
• RAG-Systeme und Echtzeit-Integration: AI-Twins, die aktuelle Informationen, Studien oder Marktforschungsergebnisse dynamisch einbeziehen, liefern realistischere und aktuelle Ergebnisse. Für das Unternehmen relevante Marktentwicklungen, Wettbewerbsinformationen oder Konsumententrends werden unmittelbar berücksichtigt, was zu deutlich relevanteren und verlässlicheren Insights führt.

Qualität und Kontextintegration der Daten
• Breite und Qualität der Datenbasis: Eine hochwertige Integration vielfältiger Datenquellen (z. B. CRM-Daten, Transaktionen, Social Media) verbessert massgeblich die Aussagekraft und Relevanz der simulierten Insights.
• Konsequente Kontextintegration: Modelle, die frühere Interaktionen («In-Context-Learning») systematisch einbeziehen, gewährleisten eine höhere interne Konsistenz der Antworten und realistischere Insights.

Modellwahl: Kommerziell vs. Open-Source
• Kommerzielle Modelle (z. B. GPT-4) wurden mit umfangreichen Datenmengen trainiert, werden in regelmässigen Abständen upgedatet und erreichen in Benchmark-Studien konstant zuverlässige Resultate. Ein Nachteil ist jedoch die höhere Kostenstruktur.
• Open-Source-Modelle (z. B. LLaMA, Mistral) ermöglichen eine höhere Kontrolle, erreichen aktuell jedoch noch nicht die gleiche Realitätsnähe.

Fazit: Nicht das «Ob», sondern das «Wie» zählt

AI-Twins verbinden qualitative und quantitative Forschung zu einem agilen, datengetriebenen Ansatz. Entscheidend sind Datenqualität, Modellwahl und dynamische Anpassbarkeit. Unternehmen, die diese Faktoren berücksichtigen, gewinnen schnellere, tiefere und valide Insights – ein klarer Wettbewerbsvorteil im dynamischen Marktumfeld.

Anne Scherer, PhD

Co-Founder, Delta Labs AG

anne.scherer@delta-labs.ch, +41 76 462 1331

Anne Scherer (Dr., ehemalige Assistenzprofessorin für Quantitatives Marketing an der Universität Zürich) ist Mitgründerin von Delta Labs, einem UZH-Startup, das sich auf innovative KI-Lösungen für Marketers spezialisiert hat – insbesondere auf AI-Twins zur datengetriebenen Optimierung von Marketingstrategien und Kund:innenverständnis.

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Swiss Insights News #25-4

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