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Digitalisierung der Schweizer Demokratie

Technologische Revolution trifft auf traditionelles Meinungsbildungssystem: gfs.bern hat untersucht, wie die Digitalisierung auf die Schweizer Politik einwirkt und wie diese darauf reagiert. Der digitale Strukturwandel trifft auf eine Bevölkerung, die es gewohnt ist, mit politischer Reibung umzugehen.

Immer mehr Zeit verbringen wir in der digitalen Welt – ob beruflich oder privat. Trotzdem oder gerade deshalb wird es immer schwieriger, das Publikum online anzusprechen. Auch die Online-Marktforschungsbranche und ihre Researcher kämpfen um die Zeit und Aufmerksamkeit der Teilnehmenden, während diese ihre Endgeräte nutzen. Die Response-Rates von E-Mail-Einladungen zu Befragungen sinken besonders bei jungen Menschen. Ähnliches gilt für Forschungs-Apps von Drittanbietern, die unter niedrigen Akzeptanzraten leiden.

Die Digitalisierung ermöglicht es Menschen, sich weltweit und kulturübergreifend zu vernetzen. Sie erleichtert aber auch die Versuche unterschiedlichster Akteure, Einfluss auf Wahlen und Abstimmungen zu nehmen. Die Diskussionen um Fake News, Echokammern und die Polarisierung der Gesellschaften werden aktuell hitzig geführt. Die Frage wie die Digitalisierung die politische Meinungsbildung prägt, ist zurzeit omnipräsent. Die Studie von gfs.bern im Auftrag der TA-SWISS enthält dazu eine Bestandesaufnahme. Sie zeigt, wie das schweizerische Politiksystem der Digitalisierung ausgesetzt ist und wie es darauf reagiert: Neue Chancen stehen neuen Gefahren und Risiken gegenüber. In der Schweiz trifft der digitale Strukturwandel aber vor allem auf eine reife Bevölkerung, die gewohnt ist, mit politischer Reibung umzugehen.

Der digitale Strukturwandel ist eingebettet in die Grundprinzipien der direkten Demokratie. Damit nämlich ein politischer Entscheid getroffen werden kann, sind die Stimmbürger:innen auf die Möglichkeit zur freien Willensbildung angewiesen. Dabei sind die Stimmberechtigten durchaus fähig, sich aus einer Breite und Fülle von Informationen mit unterschiedlicher Ambition und unterschiedlichem Wahrheitsgehalt eine eigene Meinung zu bilden.

Meinungsbildung entsteht aber nicht erst im Twitterfeed, sondern fusst immer auf sogenannten Prädispositionen, auf deren Grundlage die Stimmberechtigten politische Entscheidungen treffen. Diese bestehen aus grundsätzlichen Werthaltungen und Einstellungen, aber auch aus Alltagserfahrungen und Prägungen aus der eigenen Sozialisation. Ist ein Thema stark prädisponiert, nützt auch die lauteste Diskussion auf Social Media nichts, die Meinungen sind gemacht.

Hohes Vertrauen in das politische System
Es erstaunt auf einer solchen Basis nicht: Die Schweizer Stimmberechtigten haben ein im internationalen Vergleich ungewohnt hohes Vertrauen in das politische System und stützen den Gesetzgebungsprozess regelmässig an der Urne (in der Legislatur 2016 bis 2019 waren von 17 Gesetzesreferenden nur gerade zwei an der Urne erfolgreich). Die einzelnen Stimmberechtigten haben ein erfolgreich erprobtes Vorgehen, sich in aufgeladenen Kampagnensituationen mit Informationen seitens konträrer Akteurinnen und Akteure eine stimmige Meinung zu bilden, respektive im politischen Diskurs generell zu navigieren.

Alle diese Elemente helfen sichtbar auch bei der Nutzung von Social Media. In Fokusgruppen direkt darauf angesprochen wird in der Folge auch betont, dass sich gerade Junge durchaus fit fühlen, Informationen via Social Media zu prüfen und politisch einzuordnen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die wenigsten für politische Meinungsbildung nur Social Media nutzen.

Gefährlich wird es deshalb erst dann, wenn sich ganze Gruppen aus der Informationssuche in der Breite verabschieden und in abgeschlossene Diskurssysteme und damit in Parallelrealitäten zurückziehen. Diese Gruppe entzieht sich sehr bewusst einem Teil der Diskussion, nicht nur im Social-Media-Raum, sondern ganz grundsätzlich.

Die Digitalisierung verändert das politische System der Schweiz
Digitalisierung trifft nicht nur auf eingespielte politische Meinungsbildungsprozesse, sondern auch auf ein etabliertes politisches System im Wandel. Das politische System der Schweiz ist grundsätzlich nicht in Stein gemeisselt. Anpassungen der Prozesse und Entscheidungsmechanismen definieren das System immer wieder neu. Aktuell lassen sich in der Schweiz Veränderungen entlang der Konkordanz und ein Erstarken populistischer Kräfte sowie populistischer Politikbildung beobachten. Dabei gibt es starke Hinweise darauf, dass die Digitalisierung der Schweizer Politik nicht ursächlich für Populismus oder abnehmende Konkordanz ist, sondern schon bestehende Entwicklungen unterstützt.

Weltweit werden durchaus laute Diskussionen darüber geführt, inwiefern hauptsächlich Populismus die Demokratie gefährdet und nebensächlich Social Media einen verstärkenden Beitrag dazu leisten. Aktuell kann eine solche Diskussion in der Schweiz aus einer relativ entspannten Situation heraus initiiert werden:
Das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System und die Behörden ist im internationalen Vergleich hoch, fakultative Referenden sind grossmehrheitlich nicht erfolgreich. Der Diskurs sollte dennoch geführt werden, denn Triebkraft zur Beschleunigung haben die neuen digitalen Formen der Politisierung durchaus, seien es Social Media als Verstärker von populistischen Botschaften, sei es E-Collecting mit der potenziellen Gefahr, ein politisches System mit einer Vielzahl an Referenden zu blockieren.

Chancen und Risiken der Digitalisierung
Entlang dieser Grundaspekte bietet die Digitalisierung zahlreiche neue Möglichkeiten um den politischen Alltag einfacher und zugänglicher zu machen. Die Digitalisierung der Schweizer Politik hat sichtbar das Potenzial, einer freien Meinungsbildung zuzudienen. Die Möglichkeiten zum herrschafts- und hindernisfreien direkten Diskurs nehmen zu, die neuen Kommunikationsinstrumente können Inhalte zielgruppengerechter und damit präziser zur Verfügung stellen, und durch digitale Partizipationsformen können neue Zielgruppen, aber auch schwer politisierbare Themen verstärkt in den politischen Diskurs einfliessen.

Allerdings behindern die Geschwindigkeit in der Informationsverbreitung, der niederschwellige Zugang ohne journalistische Qualitätskriterien sowie das Geschäftsmodell der Plattformbetreiber potenziell eine freie Willensbildung. Bei Social Media sind also die Vorteile und die Nachteile hochgradig miteinander verknüpft. Mögliche regulative Eingriffe wären auch Eingriffe in Chancen und insbesondere in die Meinungsäusserungsfreiheit und damit in die freie Willensbildung.

Die Digitalisierung der Schweizer Demokratie bringt ebenso sichtbar eine Reihe von Risiken mit sich, wobei das im öffentlichen Raum am häufigsten diskutierte Thema Missinformation und Desinformation ist. Insgesamt sind solche Fehlinformationen in der politischen Kommunikation nichts Neues, die Digitalisierung hat aber insbesondere die Verbreitungspotenz und –geschwindigkeit massiv erhöht.

Problematisch ist in diesem Kontext, dass Autor:innen von Social-Media-Informationen weder an journalistische Ethik gebunden sind, noch (in den meisten Fällen) über journalistische Fachkompetenz verfügen. Durch den Wegfall dieser traditionellen Gatekeeper-Funktion von journalistisch arbeitenden Redaktionen fallen zentrale Elemente der Qualitätskontrolle und Wahrheitsprüfung weg.

Die Regeln der Plattformen und amerikanische Sichtweisen prägen den Diskurs mit
Schlussendlich dürfen wir nicht vergessen: Gerade die grossen Social-Media-Plattformen sind weder für den politischen Diskurs geschaffen worden, noch haben sie einen solchen als übergeordnetes Ziel. Faktisch entscheiden weitgehend die Plattformen, welche Informationen die einzelnen Nutzenden sehen und damit im Rahmen ihrer politischen Willensbildung verarbeiten können. Die Selektionskriterien sind dabei nicht abschliessend transparent und folgen sicher nicht hauptsächlich der Logik politischer Relevanz.

Vielmehr beruht ihr Geschäftsmodell im Kern darauf, dass Nutzerinnen und Nutzer möglichst oft und lange auf den jeweiligen Plattformen verweilen. Dazu kommt ein stark in der amerikanischen Gesellschaft verankertes Verständnis von Meinungsfreiheit: Diese wird wesentlich über andere Rechte des Persönlichkeitsschutzes gestellt, was insbesondere weltweit spürbare Folgen darauf hat, welche Informationen auf diesen Plattformen verfügbar sind. Solange die einzelnen Staaten ausserhalb der USA darauf sowohl ressourcenseitig als auch juristisch nur wenig Einfluss nehmen können, prägt diese amerikanische Sicht auf Meinungsfreiheit, notabene entstanden in einem höchst konkurrenzdominierten dualen Parteiensystem, auch die Diskurskultur in der Schweiz mit.

Die Studie ist eine von insgesamt drei Studien, die im Rahmen des Projekts «Bürger und Institutionen angesichts der Digitalisierung der Demokratie in der Schweiz» im Auftrag von TA-SWISS erarbeitet worden sind und ist unter folgenden Links zum Download verfügbar:
Publikationen | TA-SWISS
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Urs Bieri

Co-Leiter und Mitglied des Verwaltungsrates von gfs.bern

Marco Bürgi

Junior-Projektleiter bei gfs.bern

Zu den Autoren

Urs Bieri ist Co-Leiter und Mitglied des Verwaltungsrates von gfs.bern und beschäftigt sich in der angewandten Forschung seit 25 Jahren mit gesellschaftlichen und politischen Meinungsbildungsprozessen.

Kontakt
urs.bieri@gfsbern.ch
+41 31 311 62 07

Marco Bürgi arbeitet seit 2020 als Junior-Projektleiter beim Forschungsinstitut gfs.bern. Aktuell schliesst er den Master Schweizer und vergleichende Politik an der Universität Bern ab.

Kontakt
marco.buergi@gfsbern.ch
+41 31 311 47 51

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Swiss Insights News #15

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