In Zeiten von Globalisierungsdruck und steigenden Kundenanforderungen haben Markt- und Meinungsforschung weiter an Bedeutung gewonnen. Steigende Impfquoten führen zu Lockerungen, die den langersehnten persönlichen Zugang zur Jogging-Crew, der Diskussionsrunde oder anderen Gruppen für die qualitative Marktforschung wieder möglich machen. Quantitative Umfragen stehen jedoch weiterhin vor der Herausforderung, dass traditionelle Kanäle (Telefon, Panel, E-Mail, Brief) insbesondere bei der jüngeren Generation auf immer weniger Resonanz stossen.
Im Kontrast dazu steht der Aufstieg von Social Media. Wer heute nicht auf Instagram & Co ist, verliert den Zugang zu einer breiten Gesellschaftsschicht. Was für Marketingaktivitäten heute normal erscheint, ist in der Marktforschung noch keine gelebte Praxis.
Seit vier Jahren beschäftigt sich das Zürcher Startup Boomerang Ideas mit dem Thema Schwarmintelligenz über Social Media. Ursprünglich als Ideenvalidierungstool angedacht, wurde mittlerweile eine Methode entwickelt, um den verlorenen Zugang zu den Jungen über automatisierte Micro-Surveys wieder herzustellen. Damit ist das Unternehmen weltweit der erste Anbieter, der voll automatisiert Social Media strukturiert und repräsentativ für Marktforschung einsetzt.
Intrinsische Motivation im natürlichen Umfeld
Social Media ist für viele Kommunikations-, Unterhaltungs- und Infotainment-Plattform in einem. Wer höheren Reach und damit längere Aufmerksamkeit will, muss nicht nur die User überzeugen, sondern auch die Algorithmen. Letztere orientieren sich an den ersten Interaktionen des Posts mit den Usern und erhöhen oder verringern je nach Reaktion deren weitere Verbreitung. Extrinsische, monetäre Anreize, wie sie für eine Umfrageteilnahme bei Panels üblich sind, werden von der Mehrzahl der Social-Media-User oft als «spammy» oder gering relevant wahrgenommen und sind damit nicht effektiv. Zusätzlich können extrinsische Anreize auch zu einer Verwässerung von Ergebnissen führen, da nur bestimmte Bevölkerungsschichten darauf ansprechen und Antworten teils wahllos gegeben werden, um mit möglichst wenig Aufwand die Belohnung zu erhalten.
Anders sieht es aus, wenn man innerhalb der gewohnten Umgebung des Users auf intrinsische Motivationsfaktoren setzt wie Interesse, Neugier oder das Bedürfnis, die eigene Meinung mit anderen zu vergleichen. Niederschwelligkeit der Interaktion innerhalb der Posts oder Links und eine intuitive, spielerische Benutzerführung unterstützen dabei dieses Verhalten.
Die Methode von Boomerang Ideas setzt auf einen integrativen Ansatz. Die erste Frage einer Umfrage ist bereits in einem Post oder einer Story auf der Social-Media-Plattform ersichtlich. Mittels Klick oder Beantwortung der ersten Frage wird man zum klassischen Survey-Format und der darauf folgenden Belohnung in Form der transparenten Umfrageergebnisse weitergeleitet.
Zielgruppentargeting mit Tücken
Social Media wird bereits heute genutzt, um Umfragen z.B. von Followern beantworten zu lassen. Dies führt jedoch zu klassischem Confirmation Bias, da die eigene Bubble eben die eigene Bubble ist, und Follower halt bereits Fans.
Mit Microtargeting kann man unbeeinflusste Zielgruppen erreichen, die basierend auf soziodemografischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Wohnort eingeschränkt werden können. Dieses Prinzip wird aufgrund der grossen und zahlbaren Reichweite von Social Media traditionell für Werbung eingesetzt. Aber auch A/B-Tests profitieren schon lange von diesem spannenden Zugang zur gewünschten Zielgruppe und dem schnellen Feedback.
Was oft vergessen geht: Die Algorithmen von Facebook & Co optimieren sich schnell auf engagierte, und damit einfach erreichbare User und schliessen so Teile der Grundgesamtheit aus. Damit wird ein wichtiges Prinzip der Zufallsstichprobe grob verletzt. Jeder Einzelne aus der Grundgesamtheit muss die gleichen Chancen haben, in die Stichprobe zu kommen. Kampagnen mit einer demografisch breit definierten Spannweite führen somit zwar zu einem quantitativ optimierten Resultat, repräsentieren jedoch nicht die Meinung der definierten Zielgruppe. Man erhält einzig die Meinung einer durch eine A.I. handverlesene Auswahl besonders motivierter Nutzer.
Diese Art von doppeltem Selection Bias oder, wie er bei Boomerang Ideas genannt wird, «Algorithm Selection Bias» kann durch klare Einschränkung auf eine möglichst homogene Kohorte reduziert werden.
Wie kann Social Media die Meinung einer ganzen Population abdecken?
Vorweg: Man kann es nicht. Allerdings kann auch kein Panel eine Population komplett erreichen. Dennoch, während klassische Kanäle sinkende Erreichbarkeit aufweisen oder Panel Fatigue und falsche Anreize die Kosten für gute Samples in die Höhe treiben, sind allein in der Schweiz, dem Heimatland von Boomerang Ideas, 82 Prozent aller Einwohner auf Social Media, 69 Prozent davon nutzen es täglich, Tendenz steigend.
Quotenstichproben, respektive eine geschichtete Stichprobenauswahl, ist ein gängiges Auswahlverfahren, um ganze Bevölkerungsgruppen möglichst repräsentativ abzubilden. Dabei wird die Grundgesamtheit in kleinere, homogene Untergruppen unterteilt, wobei Verteilungscharakteristiken nachgebildet werden.
Bei genügend klar definierten Zielgruppen (z.B. 18- bis 24-jährige, deutschsprachige Zürcher via Snapchat-Stories), kann dieses Prinzip auf die Steuerung der Posts mittels Microtargeting übernommen werden, womit alle benötigten Untergruppen angesprochen werden können. Eine Kreuzgewichtung (cross quoted sampling) in der Rekrutierung und der Gewichtung der Antworten stellt sicher, dass keine Gruppe unter- oder überrepräsentiert ist.
Boomerang Ideas hat dieses Verfahren auf Social Media in einer Vorstudie in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich geprüft. Dabei wurden die gängigen Polls sowie das Abstimmungsresultat der eidgenössischen Abstimmungen von jeweils 2 Dossiers mittels 13 Befragungen (N zwischen 416 und 976) in 182 Untergruppen auf 4 sozialen Netzwerken kontrolliert. Die Befragungen über Social Media konnten im Durchschnitt in 2/3 der Fälle das Abstimmungsergebnis besser vorhersagen als die gängigen Kanäle.
Der Trend aus der aktuellen Vorstudie hat wichtige Erkenntnisse zum Umfragepotenzial von Social Media erbracht. Er zeigt, dass die richtige Social-Media-Population, bei der jede Kohorte im richtigen Format und auf der richtigen Plattform ausgewählt wird, durchaus die Meinung einer Bevölkerung abbilden kann. Um auch die Signifikanz der Erkenntnisse final sicherzustellen, ist bereits eine grössere Folgestudie in Planung.
Die Resultate zeigen, dass das Verfahren valide ist. Die Dynamiken von Social Media müssen jedoch weiter erforscht werden, nicht zuletzt, weil das nächste TikTok oder Facebook sicher kommen wird. Der Schnelllebigkeit von Social Media muss durch stetige Anpassungen Rechnung getragen werden, um die Qualität der Ergebnisse stabil zu halten.
Mittels systematischer Datenauswertungen des Interaktions- und Abstimmungsverhaltens können neue Muster identifiziert und potenzielle Veränderungen von Präferenzen erkannt werden. Damit kann die interne Definition der Social-Media-Population manuell nachjustiert werden. Bei Boomerang Ideas wird genau das nicht nur umgesetzt, sondern demnächst sogar automatisiert werden, um die jeweils passendsten Kanäle im richtigen Format, zum optimalen Zeitpunkt jeder Kohorte noch schneller zu identifizieren und die Plattform entsprechend stetig aktuell zu halten.
Spannungsfeld Social Media
Social Media ist nicht nur äusserst dynamisch und schnelllebig, auch die Firmen dahinter sind zu einem gewissen Grad unberechenbar.
Eine der grossen Herausforderungen ist die Kostenunsicherheit. Je nachdem sind die für die Stichprobe benötigten Untergruppen mehr oder weniger responsiv auf den Post und es kann länger dauern, bis die benötigte Anzahl von Probanden erreicht ist, was zu höheren Kosten führt. Dies macht es schwierig, die Gesamtkosten für eine bestimmte Anzahl Samples für eine definierte Grundgesamtheit zu berechnen. Was für Werbung zum Alltag gehört – dort soll ein fixes Gesamtbudget eine geschätzte Reichweite, erwartete Views oder Clicks abdecken – ist ein Bruch mit der traditionellen Preisgestaltung von Kosten pro Antwort in der quantitativen Marktforschung.
Feedbackloops in kurzen zeitlichen Abständen entsprechen dem agilen Zeitgeist. Dieses Prinzip kann helfen, eine ungefähre Preisspanne zu schätzen. Eine kurze Stichprobe einer bestimmten Zielgruppe gibt schnell Aufschluss über die Resonanz einer Umfrage. Ein aufgrund von bisherigen Daten definierter Schwellenwert (z.B. Werbekosten von CHF 3 pro ausgefülltem Fragebogen) hilft einzuschätzen, ob die Umfrage im Budget bleibt oder nicht. Integrierte Schwellenwertanalysen ermöglichen Boomerang Ideas in einer Vorphase der Umfrage, aufgrund von kurzen Interaktionen mit mehreren Zielgruppen, die Gesamtkosten zu errechnen und gegebenenfalls die Umfrage zu stoppen. Damit werden Fixpreise pro Umfrageteilnehmer möglich.
Eine weitere Herausforderung sind Abbruchraten bei längeren Umfragen. Die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Social-Media-Usern schlägt derart zu, dass eine grobe Verzerrung zu erwarten ist. Agilität, wie sie in vielen anderen Bereichen bereits auf dem Vormarsch ist, kann auch hier die Antwort sein: Der niederschwellige Einsatz von Micro-Surveys mit nur drei bis fünf Fragen anstatt 30 ermöglicht die Abbruchraten in akzeptablen Bandbreiten zu halten. Das entspricht nicht nur dem Trend auf Social Media: Insgesamt ist die Aufmerksamkeitsspanne gesunken, womit auch bei klassischen Umfragen die Ergebnisse mit steigender Länge unzuverlässiger werden.
Um unnötigen Skaleneffekten bei der Kontrolle und Erstellung hunderter verschiedener Kohorten pro Umfrage zu entgehen, setzte Boomerang Ideas auf eine komplett automatisierte Steuerung, die über die frei zugänglichen API‘s (Programmierschnittstellen) der verschiedenen Plattformen operiert (derzeit Facebook, LinkedIn, Snapchat und Instagram). Die Automatisierung und Anbindung an verschiedene Netzwerke ermöglicht heute Umfragen in drei bis sieben Tagen voll automatisiert durchzuführen.
Klare Statements beim Datenschutz
So gross die Möglichkeiten auf Social Media auch sind, um sich auszutauschen oder um Probanden für Umfragen zu rekrutieren – der zunehmend ambivalente Einfluss auf unsere Gesellschaft beschäftigt auch das Team von Boomerang. Dieses sieht regulative Schranken für die Plattformen als nötig an, aber auch die Verbesserung der Medienkompetenz der User als zwingende Massnahme, um unser Verhältnis zu Social Media wieder zu normalisieren.
Nach dem Skandal um den Datenmissbrauch durch Cambridge Analytica haben Social-Media-Automatisierungen zu Recht einen schlechten Ruf. Um die sozialen Medien und ihr Ökosystem aus dieser herausfordernden Situation herauszulösen, braucht es neben Regulatorien auch klare Statements. Boomerang Ideas setzt hier auf Transparenz und höchste Anforderungen in puncto Datenschutz (z. B. echte Anonymisierung) und damit auf ein klares Signal gegen den Status quo.
Die Investition in Forschung und den Aufbau der Automatisierung hat sich für Boomerang Ideas gelohnt. Denn damit können – sofern der Kanal-Mix stimmt – alle Altersgruppen gut erreicht werden. Dies ermutigt das Team, die nächste Studie mit der Universität Zürich durchzuführen. Boomerang Ideas glaubt fest daran: Mit sauberer Stichprobenbildung und Berücksichtigung einer fairen Datennutzung hat diese Methodik und damit die Marktforschung auf sozialen Medien eine spannende Phase vor sich.
Raphael Ueberwasser
Gründer / Geschäftsführer Boomerang Ideas AG,
Mitgründer Innovationsagentur DAY8 GmbH
Zum Autor
Raphael Ueberwasser ist diplomierter Betriebsökonom FH und hat die Mehrheit seiner Berufsjahre in der IT-Beratung und Produktentwicklung verbracht, unter anderem in der Managementberatung von Accenture. Als kreativer Kopf hat er sich in den letzten Jahren auf moderne Zusammenarbeitsmodelle und progressive Methoden wie Design Thinking und SIT spezialisiert
Kontakt
raphael@boomerangideas.com
+41 44 500 88 60
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